Eine aktuelle Studie erschüttert unser Verständnis von Nervensystemen bei Tieren. Der bescheidene Seeigel, ein meeresbewohnendes Lebewesen ohne zentralisiertes Gehirn, offenbart dennoch eine neuronale Organisation von erstaunlicher Komplexität. Diese Entdeckung stellt die etablierten Grenzen zwischen sogenannten "einfachen" Organismen und solchen, die als komplex gelten, in Frage und deutet darauf hin, dass Intelligenz nach radikal anderen Mustern als den unseren entstehen kann.
Die Stachelhäuter (zu denen unter anderem Seeigel und Seesterne gehören) zeigen eine besondere Entwicklung: Sie beginnen ihre Existenz in einer larvalen Form mit bilateraler Symmetrie, ähnlich wie viele andere Tiere, bevor sie sich zu Erwachsenen mit radiärer Symmetrie metamorphosieren. Diese Transformation stellt Biologen vor eine grundlegende Frage: Wie kann dasselbe genetische Erbe zwei so unterschiedliche Körperbaupläne orchestrieren? Die Antwort scheint in einer tiefgreifenden zellulären Reorganisation zu liegen, bei der das Nervensystem eine vorherrschende Rolle spielt.
Eine ungewöhnliche Körperarchitektur
Die genetische Analyse junger Seeigel nach der Metamorphose hat überraschende Ergebnisse geliefert. Ihr erwachsener Körper zeigt hauptsächlich eine "zephale" genetische Signatur. Die Gene, die normalerweise mit der Entwicklung des Rumpfes bei bilateralen Tieren assoziiert werden, exprimieren sich nur in inneren Organen wie dem Darm oder dem Wassergefäßsystem. Die Organisation beim Seeigel deutet auf das Fehlen einer echten Rumpfregion hin, wobei der gesamte äußere Körper als eine Erweiterung der Kopfregion strukturiert ist.
Diese ungewöhnliche Verteilung stellt die klassischen anatomischen Kategorien in Frage. Forscher des Museums für Naturkunde Berlin und der Stazione Zoologica Anton Dohrn in Neapel haben beobachtet, dass die Grenze zwischen Kopf und Rumpf, die bei den meisten Arten so deutlich ist, sich im Laufe der Evolution der Seeigel offenbar verwischt hat. Ihre äußere Körperhülle würde als eine vereinheitlichte, weitläufige sensorische und neuronale Region fungieren.
Die Metamorphose der Seeigel stellt somit weit mehr als eine einfache Formveränderung dar. Sie entspricht einer grundlegenden Reorganisation der Genexpression, bei der die typischerweise zephalen Entwicklungsprogramme die Oberhand über die für den Rumpf bestimmten gewinnen. Diese Entdeckung eröffnet neue Perspektiven auf die Evolution von Körperbauplänen im Tierreich.
Ein integriertes und empfindliches Nervensystem
Die beim Seeigel identifizierte neuronale Vielfalt übertrifft alle Erwartungen. Hunderte verschiedener Neuronenarten koexistieren, die sowohl für Stachelhäuter spezifische Gene als auch hochkonservierte Gene exprimieren, die man im Zentralnervensystem von Wirbeltieren findet. Diese einzigartige Kombination zeigt ein integriertes System und nicht nur ein einfaches dezentrales Nervennetzwerk.
Die Lichtempfindlichkeit erscheint besonders ausgeklügelt. Die Photorezeptorzellen, die über den gesamten Körper verteilt sind, exprimieren verschiedene Opsine, lichtempfindliche Proteine. Ein spezifischer Zelltyp kombiniert sogar Melanopsin und Opsin, was auf eine Fähigkeit hinweist, Lichtreize ohne ein dediziertes Sehorgan zu detektieren und zu verarbeiten.
Diese Organisation als "Gehirn in Körpergröße" könnte eine evolutionäre Alternative zur neuronalen Zentralisierung darstellen. Das Nervensystem des Seeigels demonstriert, dass eine verteilte Kognition eine bemerkenswerte funktionale Komplexität erreichen kann. Diese Arbeiten, veröffentlicht in
Science Advances, laden dazu ein, neu zu überdenken, was im Tierreich ein komplexes Nervensystem ausmacht.
Autor des Artikels: Cédric DEPOND
Quelle: Science Advances